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  (Fotos von *** und Claus Schreiner)

Angus Fowler M.A., Marburg/Berlin, den 2. Februar 2010

Rosenstraße 9 – Folgen und Bedeutung

 Der Fall Rosenstraße 9 zeigt, dass ein Bau, der zum Kulturdenkmal erklärt wird und nachweislich unter Denkmalschutz steht, letztlich nicht geschützt und vom Abbruch verschont wurde. Denkmalschutz und Denkmalschutzgesetz gewährleisten die Erhaltung von Gebäuden nicht, vor allem wenn eine politische Mehrheit sogar mit Unterstützung der Denkmalschutzbehörden und des Denkmalbeirates einem Investitionsvorhaben Vorschub leisten.

Fest steht, dass das Haus (erbaut 1874-76), auch mit dem Hinterbau, der ehem. Schmiede (erbaut 1902), als Denkmal erkannt, erfasst und erklärt wurde: Als frühes Beispiel eines Wohnhauses mit unverputztem Sandstein-Bruchstein-Mauerwerk wurde das Gebäude durch die Kunsthistorikerin Frau Dr. Ellen Kempf erkannt und in die – leider immer noch nicht veröffentlichte – Denkmaltopographie der Stadt Marburg II als Kulturdenkmal aufgenommen. Begründung:„Der Beruf des Bauherrn ist dem Haus abzulesen.

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Der ... Massivbau wirkt wie eine Visitenkarte. Es handelt sich im bearbeiteten Gebiet um das älteste Haus in unverputzter Mauerwerksweise …. Kulturdenkmal aus sozialgeschichtlichen Gründen.“ Das Haus ist ein frühes Zeugnis der Arbeitskunst des Maurers bei einem Wohnhaus im 19. Jh. Die Denkmaleigenschaft wurde sogar vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen bestätigt, indem der Leiter der Marburger Außenstelle des Landesamtes, Baurat Udo Baumann persönlich, 2008 dem damaligen Eigentümer May schriftlich erklärte, sein Haus sei ein Kulturdenkmal. Ohne weiterer Prüfung der Geschichte und Bedeutung des Gebäudes – die eigentlich vor der Genehmigung eines Abbruches notwendig wäre – hat derselbe Denkmalpfleger/Denkmalschützer (!!) sein Einvernehmen zur Genehmigung des Abbruchantrags ausgesprochen und das Haus mit der Schmiede zum Abbruch freigegeben und damit die Denkmaleigenschaft, die er selbst ausgesprochen hatte, entzogen – allerdings ohne einer formalen Rechtsakt der Streichung oder Löschung aus der Denkmaltopographie/Denkmalliste vorzunehmen. Einzige öffentliche Begründung des Bezirkskonservators Baurat Baumann, in einem öffentlichen Interview des Fernsehens des Hessischen Rundfunks: Er gäbe „dem größeren Bauvolumen (des Investitionsvorhabens Kongress- und Verwaltungs-Zentrum der Deutschen Vermögensberatung (A.F.) den Vorrang“. 

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Im Gegensatz dazu kämpft Baumanns Kollege Dr. Bernd Buchstab, zuständig für den Landkreis Marburg-Biedenkopf, für die Erhaltung des ehem. Backhauses in Momberg, ein durchaus vergleichbarer, aber weniger bedeutender Bau als Rosenstraße 9. Momberg ist aber nicht Marburg! Damit wird praktisch das Hessische Denkmalschutzgesetz untergraben und damit setzt Marburg in die Öffentlichkeit einen sehr schlechten Präzedenzfall, allerdings nicht der einzige in Hessen oder in Deutschland, siehe z.B. das Hentschel-Haus an der Wolfsschlucht in Kassel, die Beethovenhalle und das Kino Metropol in Bonn. In Zukunft nutzt es nichts, nur an das Landesamt für Denkmalpflege Hessen, den Denkmalbeirat, den Magistrat oder die Stadtverordnetenversammlung zu appellieren, es muss noch mehr größere, breitere Öffentlichkeit erreicht werden, um vor allem politischen Druck zu erzeugen, um schlechte Beispiele zu brandmarken, Appelle an Minister/Regierung, Landtag und Petitions-Ausschuss des Landtages gerichtet werden, auch an das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz,das Deutsche ICOMOS und UNESCO Komitee, ggf. an das Welterbe-Zentrum in Paris, an EU und Europarat. Denn ein solches Untergraben von Sinn und Zweck des Denkmalschutzes und der Denkmalschutzgesetze sollte nicht mehr hingenommen werden.

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Es muss auch genau auf das Einhalten und Gang des Verfahrens, Missbrauch und Verletzung davon geachtet werden. Die Denkmalbehörden können keine verlässlichen Partner sein, wenn sie ihre natürliche Verbündeten, Vereine und Bürgerinitiativen, derart im Stich lassen und Abbrüche dulden und sogar genehmigen. Das Haus Rosenstraße 9 stellt sicherlich kein Kulturdenkmal des höchsten Ranges oder von internationaler Bedeutung – wie die Elisabethkirche oder das Marburger Schloss – dar. In der Bundesrepublik Deutschland (im Gegensatz zur früheren DDR oder zu Großbritannien) aber gibt es keine Denkmal-Kategorien. Gebäude verschiedener Größe und Bedeutung werden aus verschiedenen Gründen, z.B. auch sozial-geschichtlichen, zu Denkmälern erklärt, oft wird –wegen fehlender weiterer Erforschung – ihre volle Bedeutung nicht gleich erkannt oder erfasst, so im Falle von Rosenstraße 9. Auch Kleindenkmäler und Gründerzeitbauten sind für das historische Bild einer Stadt wichtig. Da die Denkmalbehörden es nicht als notwendig sahen, selbst – wie es ihren gesetzlichen Auftrag eigentlich erfordert –Bedeutung und Geschichte des Hauses weiter zu erforschen, wurde dies von privater Seite unternommen.

 Die Begründung der Denkmaleigenschaft in der (unveröffentlichten) Denkmaltopographie Marburg II konnte noch weiter untermauert werden:

1) Als frühes noch erhaltenes Beispiel in Marburg eines Wohnhauses mit unverputztem Sandstein-Bruchstein-Mauerwerk, erbaut 1874–1876. Wohl etwas älter (ca. 1870), aber einfacher ist das Haus Pilgrimstein 13, vielleicht sogar vom selben Maurer errichtet. Nach dem Befund alter Photographien und mündlicher Aussagen scheint das Haus – wohl bewusst – nie verputzt gewesen zu sein.– Dieses Aussehen des Hauses spiegelt eine Mode in der Zeit um etwa 1840-1880 zumindest in England, Frankreich und Deutschland, mit dem Ruf z.B. von A.W. Pugin (England) und Viollet-le-Duc (Frankreich), nach Steinsichtigkeit wieder. Unmittelbares regionales/nationales Zeugnis davon war das Abschlagen des Putzes am Limburger Dom 1872–73 unter Leitung des Berliner Architekten Hubert Stier (auch am Roten Rathaus in Berlin tätig), das möglicherweise den Maurer/Bauunternehmer und Bauherrn von Rosenstraße 9, Johann Georg Heres, beeinflusst hat.

Mögliche Vorbilder in Marburg waren nicht nur unverputzte Sandstein- und Backsteinbauten (z.B. Ketzerbach 11 und 14) aus dem 3. Viertel des 19. Jhs, sondern unverputzte Sandsteingebäude bereits aus dem Mittelalter, wie das „Steinerne“ (!) Haus, Markt 18, und das Haus Barfüßerstraße 3, der sog. „Arnsburger Hof“. Etwa vergleichbar au– Bereits 1855 war an der Restaurierung der Elisabethkirche ein Weißbinder, Heinrich Heres, katholisch, beteiligt.Möglicherweise mit Johann Georg Heres verwandt, wohnte er wie dieser 1868–1874, im Haus Nr. 443, heute nicht mehr vorhanden, Zwischenhausen 16, bei Katherina Wagner, Gastwirtin zum Gelben Löwen. Die Familie stammte möglicherweise aus Fulda, da war ein Baumeister Heres ca. 1840–80 tätig. – Mit Ausnahme der Ansätze am Haus Ketzerbach 14 (um 1865), zeigt das Gebäude wohl zum ersten Mal in Marburg antikisierenden neo-Renaissance Formen auf, vielleicht eine Reflexion des Stilgeschmacks des wohl katholischen Bauherrn/Maurers/Bauunternehmers Johann Georg Heres, der möglicherweise bereits 1865 am Haus Ketzerbach 14 für die Familie Heusinger gearbeitet hat. Ob die Stilwahl auch den Geschmack des ersten bekannten Mieters, Professor Ferdinand Justi und seines Bruders Prof. Carl Justi, berücksichtigt bzw. diesem entspricht, muss dahingestellt bleiben.

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2) Die Entstehung des Hauses in Rahmen der Entwicklung des Marburger Nordviertels im Bereich der Bahnhofstraße und Rosenstraße nach dem Abbruch des mittelalterlichen Elisabeth-Tores 1829 konnte gut eingereiht und dokumentiert werden:– Um 1830 ff. Verbesserung und Ausbau der künftigen Bahnhofstraße.– Seit etwa 1840 Entstehung zunächst von Zimmerplätzen, Werkstätten und Lagerhäusern der Zimmermänner Georg Arcularius und Georg Broeg, später Fabriken J.C. Ostheim und J.M. Seidel, an der nördlichen Seite der künftigen Rosenstraße, Bau erster Wohnhäuser dort.– Um 1850 Bau des ersten Hauses, heute Bahnhofstraße 14, damals „an der Elisabeth-Brücke“ genannt, weiterer Häuser später seit etwa 1855/60, dabei als Massivbau aus Tuffstein Bahnhofstraße 20 vor 1867 (abgebrochen 2008 für das Parkhaus) – Um 1869 war die südliche Seite der Rosenstraße/städtisches Sauwasen u. a. als wilde Deponie des Zimmermanns Broeg benutzt. Von der Stadt Marburg geräumt, aufgeschüttet, geebnet und als Bauplätze ausdrücklich für Wohnhausbau verkauft. Um 1872–73 entstehen Rosenstraße 11 (Fachwerk) und 7 (unverputzter Backsteinbau) 1874–76 Rosenstraße 9 (unverputztes Sandstein-Bruchstein-Mauerwerk) .

3) Bedeutung der Bewohner, Eigentümer

– Juni 1877– März 1884 Professor Ferdinand Justi und seine Familie, dabei sein Sohn Ludwig Justi (1876–1957), Kunsthistoriker, 1908 Direktor der Nationalgalerie Berlin, 1945 Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, der sich 1950 mit dem Marburger Kunsthistoriker und Ordinarius Richard Hamann für die Erhaltung des Berliner Schlosses eingesetzt hat. Ferdinand Justi und sein Bruder, Germanist, Philosoph, Archäologe und Kunsthistoriker, Carl Justi, Professor in Kiel und Bonn, kritisierten öffentlich den Umgang mit Denkmälern in Marburg (Renaissance-Uhrhäuschen an der Pfarrkirche, Universitätsgebäude Dominikanerkloster, das Schloss) und schickten sogar zumindest eine Eingabe an den Preußischen Kultusminister.– Vorher 1872–1877 wohnte die Familie Justi im Haus, heute Bahnhofstraße 16.Ihre Erfahrung als Mieter mit Mitbewohnern in beiden Häusern war offensichtlich nicht gut – mit dem Kaufmann Gustav Lipphardt in Bahnhofstraße 16 bzw. dem „groben und rauhen Soldaten“, Hauptmann Appell, den Ferdinand Justi sogar „der Behörde anzeigen“ wollte, in Rosenstraße 9. Das Wohnen im nördlichen Stadtteil schlug auch negativ auf die Gesundheit der Familie zu Buche: Der junge Ludwig Justi, „Luxchen“ genannt, litt dort stark unter bronchialen Infekten, insbes. Katarrh. Daher wurde der Einzug ins eigene, neu erbaute Haus auf dem eigenen Gartengrundstück, heute Barfüßertor 32, als Befreiung empfunden, wenn auch sehr bald durch den Bau von Nachbarhäusern Umgebung und Sicht dort sehr eingeengt wurden.

– Nachbar der Familie Justi in der Rosenstraße 9 war die Familie Ubbelohde 1874–1884 im Fachwerkhaus Rosenstraße 11 (erbaut um 1872–73). Die Ubbelohdes werden in den Briefen von Ferdinand Justi an seinen Bruder Carl und in den Memoiren Ludwig Justis genannt. Ferdinand Justi nahm auch den jungen, späteren bekannten Maler,Otto Ubbelohde in seinen Haushalt auf, als Ottos Eltern verreist waren. Otto Ubbelohde machte auch Wanderungen mit der Familie Justi.– Eigentümer des Grundstücks und des Hauses (nach den sog. Gebäudebüchern) waren:

1872 Johann Georg Heres, zugleich Maurer/Bauunternehmer/Bauherr

1885/86 Bankier Baruch Strauß

1892/93 Kaufmann Heinrich Müller

1899 Paderborner Aktien-Brauerei

1902 Schmiedemeister Ernst Döring

1956 Kaufmann Josef Haller

Danach bis 2009 Erbengemeinschaft Haller bzw. May

– Weitere Bewohner und Nutzer des Hauses (Auswahl) (lt. Marburger Adressbücher):

1884 Hauptmann Appell

1887 Prof. Dr. F.B. Fittica, Generalmajorswitwe W. von Baumbach

1889 v. Baumbach, Vermessungs-Revisor A. Schoof

1893 Eisenbahn-Güterkassierer F. Vogel, Dr. F.W. Küster

1896 Oberlandmesser A. Schoof, Königlich-Preußisches Vermessungsbureau

1899 Kgl. Vermessungsbureau der Spezialkommission I

1902 Amtsgerichtsrat-Witwe Elisabeth Hofmann, Buchhändler Moritz Spieß, Landbriefträger Conrad Henkel,

Schreinergeselle Conrad Amend, Schreiber Peter Völk, Witwe Christine Hesse und Pensionär Daniel Hesse

1903 Schmiedemeister Ernst Döring und 6 weitere Parteien

1926/27 Schmiedemeister Döring, Regierungs-Landmesser Max Ewald, Eisenbahn-Sekretär-Witwe Elisabeth Tauber, Postsekretär Konrad Henkel usw.

2006/2007 Gabriele Boßhammer, Dirk Haller, Ursula Kerkhoff, Gisela und Horst May, Renate Sauers derselben Bauzeit ist das Haus Barfüßertor 7.

Copyrighted Text/ Alle Rechte   (C) 2010 Angus Fowler